Der Moskau-Flug der F 13 "Annelise"
Gute Aussichten eröffnen sich neben den Verhandlungen mit schwedischen Gesellschaften auch für einen Absatz von F 13 bei Verhandlungen mit holländischen Persönlichkeiten. Das Metallflugzeug würde sich hervorragend für den Einsatz in den holländischen Kolonien eignen. Eine Zeitlang zieht Junkers auch eine Flugzeugfabrikation in Holland in Erwägung. Im September plant Prof. Junkers einen Flug mit den beiden bisher fertiggestellten F 13 "Herta" und "Annelise" zur holländischen Luftverkehrsausstellung ELTA (Eerste Lucht-Tentoonstelling Amsterdam), die Flugzeuge dort vorführen zu lassen. Er selbst will mit seiner Frau an diesem Flug teilnehmen. Es werden alle notwendigen Vorbereitungen wie Beschaffung der Einreisevisen, Einholung einer Flugerlaubnis usw. getroffen und die F 13 "Herta" wird, wie bereits weiter oben erwähnt, extra für diesen Flug neu ausgestattet. Als Piloten sind Hans Hesse und Emil Monz vorgesehen.
Kurz vor Antritt des Fluges tritt ein Ereignis ein, daß alle diese Pläne über den Haufen wirft. Am 30. September erhält Professor Junkers, der sich gerade in Bayrischzell aufhält, folgendes Telegramm:
"Oberleutnant Hesse hat Gelegenheit politischen Flug mit Sechssitzer nach Rußland mit Unterstützung Deutscher und Sowjetregierung auszuführen Vorschlägt dringend Ausnutzung für Verwertung Punkt Maier Haller als unser Vertreter vorgesehen Abflug allerspätestens Sonnabend nötig Punkt Empfehlen einstimmig Flug auszuführen Dringdrahtet Entscheidung. Semalüreusamie (51)"
Was hat es mit diesem rätselhaften Telegramm auf sich? Die Hintergründe sind nicht leicht zu rekonstruieren. Nach Auswertung verschiedener Quellen ergibt sich folgendes Bild:
Oberleutnant Hesse hat während des ersten Weltkrieges als Jagdflieger in der Türkei gegen die Engländer gekämpft und ist nach Kriegsende nach Berlin zurückgekehrt. Dort hat er freundschaftliche Beziehungen zu Professor Friedrich Sarre und dessen Frau, einer geborenen Humann. Deren Vater, der Ingenieur Carl Humann, hatte von 1878 bis 1886 die Ausgrabungen in der Türkei die Ausgrabung des Pergamonaltars geleitet und hatte bis zu seinem Tode 1896 in Smyrna gewohnt. In Smyrna wohnte auch der Geheime Rat Sarre, dessen Sohn Friedrich nach dem ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrt und Leiter der Berliner Islamischen Kunst-Abteilung wird.
Prof. Sarre unterhält freundschaftliche Beziehungen zum ehemaligen Oberstkommandierenden der türkischen Armee Enver Pascha, der sich zusammen mit dem und dem türkischen Großwesir Talaat Pascha und anderen Bekannten in einem Sanatorium in Berlin-Wannsee vor den Alliierten verborgen hält. Enver Pascha plant, nach Rußland zu fliegen, um mit den Russen über ein Bündnis gegen England zu verhandeln und weiht seine Gastgeber in diesen Plan ein. Frau Sarre bittet daraufhin ihren Bekannten Oberleutnant Hesse, ein Flugzeug zu besorgen und Enver Pascha nach Moskau zu bringen. An dem Flug soll außer Enver Pascha auch ein weiterer Bekannter von Frau Sarre teilnehmen, Professor Bah Eddin Schakir, ein Arzt der Universität Konstantinopel. Um einen reibungslosen Flug zu gewährleisten, schaltet Frau Sarre auch ihren Bruder Kapitän Humann ein, der Leiter der Nachrichtenabteilung beim Reichsmarineamt ist.
Oberleutnant Hesse, der gelegentlich bei den Junkerswerken als Pilot tätig ist und auch schon die Junkers F 13 geflogen hat, reist sofort nach Dessau und erzählt Professor Junkers von seinem Vorhaben.
Prof. Junkers ist nicht abgeneigt. Bereits im Mai hatte er in einer Besprechung mit Vertreter in Petersburg, Maier-Haller, die Ansicht geäußert, Deutschland, Japan und Rußland sollten sich zusammenschließen. Als Verbindung zwischen den Ländern könnte das Flugzeug dienen (52). Der Junkers-Generalbevollmächtige Seitz hat kurz vorher schon Beziehungen zu japanischen Fliegeroffizieren aufgenommen, die zu Besuch in Deutschland weilen und Ende Juli auch die Junkerswerke besuchen. Der Schriftsteller Hans Dominik erarbeitet das Konzept für einen Junkers-Industriefilm, der nach Japan geschickt werden soll (53). Gelänge es nun noch, die Russen von einem Ankauf der F 13 zu überzeugen, könnte mit diesem Flugzeug vielleicht ein Luftverkehr nach dem Osten aufgezogen werden, der dem Zugriff der Alliierten entzogen ist.
Carl Seitz, der mit der Familie von Carl Humann vor dessen Tod in Smyrna freundschaftlich verkehrt hatte und daher Frau Sarre ebenfalls persönlich kennt, unterstützt Hans Hesse bereitwillig. Er berät sich sofort mit dem Junkers-Vertreter Maier-Haller in Petersburg und notiert über das Gespräch:
"Maier-Haller hält den Plan des Oberleutnant Hesse für sehr gut, eine ausgezeichnete Idee, auf die man unbedingt eingehen solle. Die Sache habe Hand und Fuß. Natürlich müsse man die Maschine à fonds perdu schreiben. Wenn das Unternehmen aber gelingt, so könne der Erfolg groß sein. Hesse würde jedenfalls mit offenen Armen empfangen werden. Es sei keine Frage, daß man ihm auch helfen würde, wieder über die Grenze zurückzugelangen, schon um wieder etwas Gutes aus Deutschland zu erhalten. Auf alle Fälle rät Maier-Haller, wenn die Maschine verkauft werden sollte, das Geld nicht in wertlosen Rubeln, sondern in Juwelen oder anderen Werten anzunehmen. Die Leute verfügen über derartigen Besitz. ..."(54)
Damit steht endgültig fest, die Junkerswerke werden das Vorhaben von Oberleutnant Hesse unterstützen und ihm die F 13 "Annelise" für den Flug zur Verfügung stellen. Der oben erwähnte Plan des Hollandfluges muß nun aufgegeben werden, da die zweite noch vorhandene F 13 "Herta" aus wichtigen Gründen, auf die wir noch zu sprechen kommen, in Dessau als Vorführungsflugzeug gebraucht wird.
Kapitän Humann hat inzwischen beim Kriegsministerium eine Genehmigung für den Flug nach Moskau erwirkt. Dies war um so leichter, als sich die Pläne von Enver Pascha mit denen seines Freundes General von Seeckt decken, der nach den im Versailler Vertrag diktierten Friedensbedingungen eine Anlehnung an Sowjetrußland sucht (55).
Am 2. Oktober erhält Oberleutnant Hesse einen Ausweis vom Kriegsministerium, der ihm unterwegs Unterstützung gewährleisten soll:
Kriegsministerium. Reichswehrbefehlsstelle Preussen Abwicklungsstelle der Zentralstelle Grenzschutz Ost. Nr. 9842 Berlin, den 2. Oktober 1919.
Ausweis.
Oberleutnant Hesse als Führer des Metalleindeckers "Anneliese" überfliegt mit fünf Insassen im Einverständnis der obenstehenden Dienststelle deutsches Gebiet und die deutsche Grenze. Alle Behörden, insbesondere die Flughäfen pp., werden gebeten, ihm Schutz zu gewähren und ihm eventuell auch bei seinem Rückflug bei Notlandungen Betriebsstoff usw. zur Verfügung zu stellen. Oberleutnant Hesse ist angewiesen, sich beim Generalkommando VI. Res. Korps zu melden, um ein in seinem Besitz befindlichen dienstlichen Schreiben dem Herrn General von der Goltz persönlich zu überreichen.
i.A. gez. Lange
Von dem Unterzeichner des Ausweises, Leutnant Lange, erfährt Seitz nach dem Abflug von Hesse über die Hintergründe des Unternehmens noch folgendes:
"Einstweilen hat er mir gesagt, daß der Flug des Oberleutnant Hesse keine militärische Angelegenheit sei, wohl aber von militärischer Seite bestens unterstützt und gefördert wird. Der Flug geschieht im Einverständnis des Reichsmarineamtes und des Kriegsministeriums. Die Genehmigung zum Flug ist militärischerseits nach Rücksprache mit dem Leiter der Nachrichtenstelle des Reichsmarineamtes, Korvettenkapitän Humann, erfolgt, der für die Einwandfreiheit und Sicherheit des Unternehmens garantiert.
Angeblich soll es sehr wichtig für deutsche Interessen sein, daß der Flug unternommen wurde. Leutnant Lange meinte, es sei sicher anzunehmen, daß Oberleutnant Hesse das Flugzeug, soweit politische pp. Momente in Frage kommen, glücklich wiederbringt. Das Kriegsministerium hat durch Schreiben an die einzelnen Truppenteile für Unterstützung des Oberleutnant Hesse gesorgt. Er soll sich im Stabsquartier Goltz melden. Die Kommandostelle des 6. Reservekorps soll noch in Mitau sich befinden." (56).
Über weitere Vorbereitungen, den anschließenden Flug und die Ursache seines Scheiterns gibt ein bisher unbekannter Bericht Auskunft, der in den Akten der Junkerswerke aufgefunden wurde und hier vollständig wiedergegeben werden soll. Er stammt von dem russischen Ingenieur und Junkers-Mitarbeiter Abraham Fränkel, der an diesem Flug teilnimmt, um für Enver Pascha in Rußland als Dolmetscher zu dienen.
"Am 2. Oktober gegen 4 Uhr nachm. teilte mir Herr Brandenburg nach d. Kanalstrom, wo ich z. Zt. beschäftigt war, ein Ferngespräch von Herrn Mierzinsky mit: Ich möchte mich sofort nach dem Kaiserplatz begeben, dringende Angelegenheit. Nur zwei Tage waren verstrichen, seit ich von meiner Sommerfrische zurückgekehrt war. Ich begab mich also nach dem Kaiserplatz, wo mir der Vorschlag mitgeteilt wurde, mit einem Junkers-Flugzeug in Gesellschaft schon in den nächsten Tagen evtl. nach Rußland zu fliegen. Morgen früh wird Antwort erwartet.
Mehr als zwei Jahre sind es, daß ich kein Lebenszeichen von meinen Eltern erhalten habe und jeder Weg zu Ihnen wäre mir nicht schwer. Wenn auch der Flug nicht nach der Stadt meiner Eltern ging, jedoch gab mir derselbe die Möglichkeit, meine Eltern evtl. dort zu erreichen. Ein zweites Moment kam hinzu, ich wollte dem Herrn Prof. meine Anhänglichkeit zeigen. Noch habe ich nicht vergessen, meine Entlassung aus der Gefangenschaft aus Altengrabow, durch Aufnahme in der Firma durch Herrn Prof. selbst. Daher gab es für mich nicht viel zu überlegen.
Schon im Sommer, nachdem ich die Eingabe an Herrn Prof. Junkers überreichte, suchte ich die Direktion der Jfa auf. Die J IV (Panzerflugzeuge) wurden gerade abmontiert und nur als altes ... verwertet und da wollte ich diese Kisten in Rußland evtl. in den Randstaaten anbringen, wo dieselbe gut am Platze wären. Ein Flieger stand mit auch zur Verfügung. Es wäre also ein rein geschäftliches Unternehmen der Firma, ohne irgend welchen politischen Hintergrund und für mich zugleich ein Weg zu meinen Eltern. Doch wurde mein Vorschlag vertagt und ad acta gelegt.
Am Sonntag, den 5. Oktober um 11 Uhr 10 Minuten verließen wir Dessau bei dunstigem Wetter im Flugzeug "Anneliese", Insassen Oberleutnant Hesse, Maruscyk, Kratz, Müller und meine Wenigkeit. Anfangs ließen die Wolken eine Höhe von 200 Meter erreichen, doch hinter Wittenberg waren die Wolken so dicht, daß der Führer herunter auf 90 Meter gehen mußte, daher in der Kabine schwül.
Um 12 Uhr 20 Minuten landeten wir in Berlin-Johannisthal, Landung gut; der Führer ließ das Flugzeug in der Deutschen Luftreederei unterbringen. Benzin war uns nur für den Flug Dessau-Berlin gegeben, daher waren wir gezwungen, gleich nach der Landung dort auf die Suche nach Benzin zu gehen. Es gelang mir auch, verschiedene Schieber ausfindig zum machen, doch die Preise waren zu hoch und das Benzin minderwertig. So kam es, daß erst am Dienstag Abend Leichtbenzin aufgetrieben wurde und der Flug vonstatten gehen konnte.
Montag, den 6. Oktober, ging Hauptmann Hesse mit mir zu Herrn Junkers, um den Betrag von M 15.000.- für die Reise in Empfang zu nehmen. Herr Müller hat uns dabei verschiedene Wege abgenommen und war uns behilflich. auf dem Flugplatze Johannisthal wurde das Flugzeug samt Insassen gefilmt und für illustr. Zeitschriften photographiert.
Kurz vor dem Start brachte ein geschlossenes Auto die Türken "A. u. B."; ich füllte die Versicherungsliste aus und um 12 Uhr 15 Min. startete das Flugzeug bei klarem Wetter und günstigem Wind mit den 5 Insassen und schwerem Gepäck, so daß das Flugzeug überlastet war. Der Kühler spielte uns einen bösen Streich, er verlor soviel Wasser, daß eine Notlandung vorgenommen werden mußte. Während derselben versagten die Höhenflosse (die Seilzüge derselben klemmten sich). Dank der günstigen Tragflächenform, die das Bestreben haben, stets in die normale Lage zu gelangen, glückte die Landung; es hatte einen Auslauf von 17 Meter und da gerade eine tiefe Furche war, kam es zum leichten Kopfstand, der Propeller brach, Insassen heil, sonst nichts. Diese Notlandung fand in der Nähe von Czersk um 2 Uhr 10 Min. statt. Wir erreichten dabei eine Fahrtgeschwindigkeit von 250 km bei einer Höhe von etwa 1500 Meter. -
Dank der guten Beziehungen und sogar Beliebtheit, dessen sich Oberleutnant Hesse erfreute, gelang es uns, nach 2tägigem Aufenthalt daselbst den Schaden zu reparieren und am Freitag, den 10. Oktober um 11 Uhr vormittags weiter zu fliegen, doch schon nach einer Stunde mußten wir eine zweite Notlandung bei Dirschau (Dammerau) vornehmen, da der Kühler bereits zuviel Wasser verloren und der Vergaser sich festgefressen hatte, so daß die Notlandung bei Vollgas stattfand.
Es gelang Dank der bereitwilligen Hilfe eines dort am Platze befindlichen Schlossers und unseres Monteurs Marusczyk, den Kühler sowie den Vergaser nach meiner Anweisung wieder einigermaßen zu flicken und Montag, den 13. Oktober um 11 Uhr bei klarem Wetter und günstigem Wind weiter zu fliegen und landeten ohne weitere Zwischenfälle in Königsberg um 12 Uhr mittags auf dem Militärflugplatz. Fluggeschwindigkeit etwa 200 km und 1100 Meter Höhe. überall fanden wir hilfreiche Hände, sowie Posten zur Bewachung des Flugzeuges, bei Dirschen aber konnten wir keine Bewachung für das Flugzeug finden, daher entschloß ich mich, selber die Bewachung desselben zu übernehmen.
Aus Dirschau war meine Veranlassung der Firma gedrahtet, einen neuen Kühler nach Fliegerhorst Königsberg zu senden, einen Vergaser hofften wir in Königsberg zu erhalten. Der gesandte Kühler stimmte mit der unteren Motorhaube nicht überein (wahrscheinlich wegen des Motoraustausches). Die Anmontierung des neuen Kühlers und Vergasers verursachte einen zweitägigen Aufenthalt daselbst. Aus Königsberg schickte ich durch den Monteur Kunze einen Zettel betreffs Änderungen am Flugzeug: Abschließbarmachen der Türen, Schlafgelegenheit, Benzinpumpe und Seilzüge der Höhenflosse u.a.m.
Mittwoch den 15. Oktober um 12 Uhr 45 Minuten bei trüben Wetter startete das Flugzeug, um 2 Uhr 15 nachm. wurde eine Landung bei Schaulen vorgenommen, da der Führer sich bei Sr. Ex. v. d. Golz melden mußte, zu dem seine Ausweispapiere der Regierung lauteten. Landung gut; Aufnahme anfangs ziemlich streng und mißtrauisch, doch nach dem Ferngespräch mit s. E. v. d. Golz freundlichst nach dem Offizierskasino eingeladen, um eine kleine Erfrischung einzunehmen.
Die meisten Offiziere waren in russischer Uniform und sprachen auch russisch, nur einige waren in deutscher Tracht. Wir wurden aufmerksam gemacht, daß es dort zeitiger dunkel wird und daß evtl. deswegen besser wäre, dort zu übernachten, doch er Türke A. äußerte seinen Unwillen darob. Auch wurde von einem russischen Fliegerleutnant eine andere Flugroute vorgeschlagen, doch wegen der fortgeschrittenen Stunde konnte der Flieger Hesse eine änderung nicht mehr vornehmen und um 3 Uhr 10 Min. unter jubelnder Verabschiedung sämtlicher Offiziere flogen wir von dannen. Es war die erste Fliegerabteilung der Koltschak-Truppen.
Wir hatten Gegenwind und das Wetter wurde zusehends schlechter. Wir konnten durch mühsame Umgruppierung des Gepäcks sowie der Insassen eine Höhe von nur 600 Meter erreichen. Auch die Fluggeschwindigkeit war sehr gering; einige Gewährschüsse wurden uns nachgesandt, die uns nichts schadeten und wie Leuchtraketen erschienen. Es war schon ziemlich dunkel, als wir in einer Entfernung von 40 km vor Dünaburg flogen; doch das anziehende Gewitter mit dem ruckweisen Wind veranlaßte zu einer Notlandung. (Die Brücke über die Düna war von den Polen und Litauen, Letten und anderen besetzt, die Stadt selbst war von den Sowjettruppen festgehalten).
Kaum daß wir den Boden erreichte, waren schon verschiedene Bauern da und staunten das Unding an, meinten es sein ein 'Engländer'. Ich suchte mich mit den Leuten in russisch zu verständigen und brachte in Erfahrung, daß wir unter der Obrigkeit der Litauer und befinden, was ich auch dem Führer sowie den anderen Insassen mitteilte. Herr Hauptmann Hesse meinte, es würde uns hier nichts geschehen, da hier eine deutsche Mission sei, die uns bestimmt ihren Schutz angedeihen lassen wird; auch habe er noch verschiedene alte Bekannte und Freunde dort. Nach kurzer Überlegung entschlossen sich alle, hier in der Nähe zu übernachten.
Es war schon vollständig dunkel geworden und das Gewitter löste sich in einen fürchterlichen Regen auf. Herr Hauptmann Hesse und ich gingen in die nächstliegende Ortschaft (Abelli), um einige Wachtposten für das Flugzeug beordern zu lassen. In diesem Orte befand sich nur eine litauische Kompanie, dessen Führer nicht zugegen war. Der Feldwebel gab uns jedoch 5 Soldaten und auf meine Bitte, uns ein Nachtlager anzuweisen, wurden wir zu einem deutschen Dr. Ney, der im litauischen Dienst steht, hinempfohlen, wo wir herzlichst empfangen wurden. Der obengenannte Dr. stellte uns einen Bauernwagen zur Verfügung, mit dem wir uns zum Landungsplatz begaben, um das Gepäck vor den nicht allzu sehr zuverlässigen Wachtposten in Sicherheit zu bringen. auf dem Rückweg trafen wir eine berittene Mannschaft mit einem Offizier an der Spitze, der von uns aufgestellte Posten wegnahm und neue aufstellte.
Kaum daß wir unser Abendmahl verzehrt hatten und nach einer kleinen Unterhaltung mit der Familie uns etwa gegen 1/2 10 zur Ruhe begaben, wurden wir von zwei litauischen Offizieren (Kompanieführer uns sein Stellvertreter) unsanft aus dem Schlaf gestört. Sie verlangte unsere Ausweise und machten uns aufmerksam, daß keiner das Haus verlassen darf, da Posten aufgestellt sind und diesbezügliche strenge Weisung erzielten. Nach einer Stunde kehrten die beiden Offiziere in Begleitung zweier anderer, darunter der Chef der Kontr-Raswjedka (Geheim-Nachforschungsamt) und wir wurden nach dem Polizeirevier abgeführt samt unseren Sachen. Dort wurde eine strenge Untersuchung vorgenommen: Kleidungsstücke aufgetrennt, alles genau geprüft und unter anderem wurden verschiedene Fotos sowie abfotografierte Schriftstücke (in russische) mir zur Einsicht vorgelegt; es stellte sich heraus, daß in Schaulen ein Teehaus extra eingerichtet wurde, wo die Spartakisten und Bolschewisten sich regelmäßig treffen, um ihre Sachen zu erledigen.
Gerade vor einigen Tagen wurde in Erfahrung gebracht, daß ein bolschewistisches Flugzeug von Deutschland nach Rußland passieren muß, so kam es, daß man uns für dies erwartete Flugzeug hielt zumal ihnen bekannt war, daß wir in Schaulen landeten.
Nach der Untersuchung waren wir den Verhältnissen gemäß ziemlich freundlich behandelt. Dem Chef der Kontr-Raswjedka gefiel außerordentlich der Fotokasten von dem Türken A. und äußerte sich dahin, er habe schon längst den Wunsch, so einen zu besitzen. Ich teilte es mit und fügte hinzu: Man müßte die Gelegenheit wahrnehmen, ihm denselben zu schenken und zusehen, später noch anderes ihm anzubieten und eventuell dadurch freizukommen. (Er erzählte, er sei kein Litauer, da er aber bei den jetzigen Verhältnissen schlecht nach Rußland kommen kann, so nahm er hier die Stellung vorübergehend an, auch habe er noch vor dem Krieg einen ähnlichen Posten in Rußland bekleidet. Da man aber hier in Litauen schlechte zahle, bereits 4 Monate kein Gehalt ausgezahlt bekommen, so denke er nicht mehr lange da zu bleiben.) Leider wurde mein Vorschlag nicht beachtet.
Um 4 Uhr morgens sind die beiden Türken und ich in einem Bauernwagen unter Bewachung nach Rokischki gefahren, wo der Sitz der Kontr-Raswjedka sich befand. Nach einer sechsstündigen Fahrt im vollsten Regen langten wir endlich dort an.
Hauptmann Hesse, Marusczyk und die oben erwähnten litauischen Offiziere legten dieselbe Strecke in der "Anneliese" zurück. Hier kam es zu einem heftigen Zwist zwischen dem Chef der K.-R. und dem Ortskommandanten. Der letztere verlangte die übergabe des Flugzeuges samt Insassen in seine Gewalt. Er stellt einen vollständig degenerierten Menschen dar, der nur Kokain und Schnapspulle kennt. Er schrie: "man müsse uns ihm rausgeben, er wisse schon, wie mit solchen Kerlen umzugehen sei, ein kurzer Prozeß und die Sache ist erledigt," (Er behielte dann das Geld und die Sachen, nur das Flugzeug würde er abgeliefert haben. Solche Fälle sind in den Randstaaten nicht selten.)
Wir aßen daselbst ein im Hotel für alle bestelltes Mittag und unsere Aussagen wurden zu Protokoll genommen. Der Chef der K.-R. äußerte sich nochmals, er würde uns freilassen ohne Bedenken, doch müsse er uns der Obrigkeit sowie der englischen Mission übergeben. Er will aber mit uns nach Kowno, um die Sache zu beschleunigen und hofft, in 2 - 3 Tagen die Sache zu erledigen.
Ich habe später im Gefängnis die Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, daß mein oben erwähnter Vorschlag am Platze war, doch da derselbe unberücksichtigt blieb, so redete ich dem Führer zu, statt nach Kowno nach Königsberg zu fliegen. An Bord befanden sich die beiden litauischen Offiziere samt unserer Ausweise, Protokolle und Geld, doch wurde es mir nicht fest versprochen.
Dieser Vorschlag von mir wurde auf rätselhafte Weise der litauischen Regierung bekannt und wurde später als belastend für mich angenommen. Die beiden Türken und ich langten in Kowno unter Bewachung eines Obersten nach einer 36stündigen Eisenbahnfahrt an. Während dieser Eisenbahnfahrt hatten wir auch eine Gelegenheit, zu entschlüpfen. Die Station Radziwiliski liegt etwa 60 Schritt von der freien Straße, die für die zurückkehrenden deutschen Truppen aus dem Baltikum freigehalten wurde. diese Station wollten wir passieren, doch da ich kein bestimmtes Versprechen vom Führer hatte, daß er nach Königsberg fliege, so zog ich vor nach Kowno weiterzureisen.
In Kowno erhielten wir Unterkunft im Hotel Berutas, wo wir auch verpflegt wurden. Zimmer leidlich, betreffs Sauberkeit, Beköstigung sehr gut. Wir wohnten da unter Bewachung, anfangs einfache Soldaten, später aber eines Offiziers und eines Unteroffiziers, konnten in Begleitung eines derselben ausgehen. Hauptmann Hesse ging fast täglich nach der Deutschen Mission, doch scheint dieselbe nur dahin besorgt gewesen, die Türken je schneller in Sicherheit zu bringen. Für den Hauptmann selbst übernahm die Bürgschaft Herr Major Tschunki, die nachher zurückgenommen wurde auf Veranlassung des Herrn Hauptmann Hesse selbst.
Ich ging zur K.-R.. um zu hören, wann unsere Haft zu Ende sei. Es wurde von Tag zu Tag verschoben. Herr Major Tschuki schien ein guter persönlicher früherer Freund von Herrn Hesse zu sein. Wir haben uns verabredet, nur das auszusagen, daß wir nach Rußland flogen, 1. der türkischen Gefangenen wegen, 2. Austausch der deutschen Geißeln gegen Radek und gleichzeitig in Erfahrung zu bringen, die Lizenz- und Patentrechte, doch vermuteten sie, daß der Flug noch ganz andere Aufgaben in Sow.-Rußl. zu erledigen habe. Und als der Militärprokurator uns von neuem verhörte und zum Unglück im Flugzeug eine Militärkarte sich fand, die die Stellungen sämtlicher Truppen an der bolschewistischen Front aufwies, wurden wir der Spionage verdächtigt und nichts konnte den Prokurator davon abbringen.
Als weitere Belastung wird der Brief von Herrn v. Doepp an seinen Vater gezählt, in dem er seinen Vater bat, uns bei den Verhandlungen mit den russischen Kommissaren behilflich zu sein. Außerdem fand sich ein Brief, gerichtet an mich, von der russischen Botschaft in Berlin, in dem gesagt wird, daß mein Brief an meine Eltern nach der angegebenen Adresse abgegangen sei. Ich wurde anfangs für Radeck gehalten und auf meine Frage, ob er sich nie die Mühe gegeben habe, eine Abbildung von Radek sich anzusehen, meinte er, sie sei nicht so naiv, sondern klug genug um alles durchschauen zu können, worauf ich ihm antwortete, sie seien sogar viel zu klug.
Der frühere Mitarbeiter der Firma Junkers, Herr Abramson, wohnt in Kowno und ist im Ministerium für Handel und Gewerbe angestellt. Er suchte uns auf und lud uns zu sein ein; er suchte den Minister des äußeren sowie den Prokurator auf und suchte diese Herren von der Legalität des Fluges zu überzeugen, sowie auch davon, daß ich mit dem Bolschewismus nie was zu tun hatte.
Inzwischen kam der denkwürdige Tag, der 28. Oktober., an welchem die beiden Türken glücklich mit einem litauischen Flugzeuge und unter Führung eines deutschen Fliegerleutnants, der im litauischen Militärdienst stand, davonkamen. An und für sich war die Flucht sehr gut ausgedacht, doch konnte dieselbe für alle zugleich geschehen. Ein bei uns wachhabender Offizier Janzewitsch, früherer Fliegeroberst im russischen Heere, ein guter Trinker und unzufrieden mit seiner dortigen Lage, wäre nicht schwer ihn dafür zu haben, um evtl. mit unserem Flugzeuge nach einem seitlich liegenden Platze (in der Nähe des Hotels fließt die Vilja in die Memel und bildet da eine Halbinsel, guter Landungsplatz) fliegen, von wo aus wir alle wegkommen konnten. Leider wurde auch diese Gelegenheit nicht wahrgenommen. Nehme an, daß die deutsche Mission in erster Linie die beiden Türken in Sicherheit haben wollte und deshalb alles andere unbeachtet ließ.
Noch am selbigen Tage, wie vorauszusehen war, wurden wir ziemlich unsanft unter starker Eskorte abgeführt: Hauptmann Hesse nach der Hauptwache, Marusczyk und ich nach dem Gefängnis. Unteren vorher bestellten Kaffe durften wir nicht mehr einnehmen und mußten schnell unsere Sachen packen. Aus dem Gespräch der litauischen Offiziere entnahm ich, daß wir nicht zusammen abgeführt werden und machte Hauptmann Hesse darauf aufmerksam, worauf er mir sein Wort gab, daß keine drei Tage vergehen werden und wir wären wieder alle beisammen.
Die russischen Gefängnisse sind ja ihrer Schlechtigkeit wegen allgemein bekannt, doch unter dem "republikanischen" Regime der "Litauer" (die Machthabenden sind meistens Polen und frühere russische Geheimpolizeibeamte, die hauptsächlich oder nur der russischen Sprache sich bedienen) noch einige Stufen schlechter geworden.
Als einige Tage verstrichen und wir von der Deutschen Mission eine klägliche Liebesgabe erhielten (einige Brötchen, Stückchen Wurst, Kaffee usw.) wußte ich, daß von der deutschen Mission nicht viel oder gar nichts zu erwarten sei. Auch jeder Kriminalverbrecher bekam von seinen Angehörigen oder Bekannten regelmäßig eine Kiste Lebensmittel, denn mit der Gefängniskost ist es dem größten Hungerkünstler nicht möglich, auszukommen (etwa 3/4 Pfund Brot, einen Napf Kaffee, eine Wassersuppe mit etwas Rübenabfall oder Abfallkohl).
Besonders befremdet hat mich das Verhalten der deutschen Mission, in Person s. E. Zimmerle, uns gegenüber. Dieselbe war außerordentlich vorsichtig, um nicht mehr zu sagen. Wie ich später erfuhr, wollte und fürchtete dieselbe auch für Herrn Hauptmann Hesse einzutreten und nur der Korona der dort anwesenden deutschen Offiziere gelang es, S. E. Zimmerle dazu zu bewegen, daß er für Hauptmann Hesse eintrat und seine Befreiung veranlaßte.
Auch Marusczyk wurde am 4. November freigelassen; ich gönnte es ihm von Herzen, denn er ist ja Familienvater und als Monteur war er sehr fleißig und zuverlässig.
Die Mission unterließ es, für mich gutzusagen, daß ich kein Bolschewist wäre, trotzdem sie dieses leicht hätte in Erfahrung bringen können. Auch für Linderung meiner geistigen sowie leiblichen Entbehrungen (ich litt besonders darunter, daß ich auch nicht ein Buch zum Lesen hatte) geschah nichts, und mir blieb auch der verächtlich hingeworfenen Vorwurf nicht erspart, ich sei mitgeflogen, um ein "Geschäftchen" zu machen. Den Türken gegenüber war das Verhalten der Mission, wie oben erwähnt, ein ganz anderes, indem dieselben nicht nur mit Geld und Waffen unterstützt wurden, sondern auch ihre Flucht arrangiert wurde.
Einigemale wurde mir die Freiheit angeboten, wenn ich Aufklärung geben würde betreffs der Flucht der Türken, wie sie heißen und was sie in Rußland wollten, sowie betreffs des Flugzeuges "Anneliese". Selbstverständlich habe ich es mit der Tröstung von mir zurückgewiesen.
Im Gefängnis lernte ich Herrn Hauptmann Behr kennen, der Kunstmaler ist, war aber aktiv bei S. E. v. Ludendorf; trotz seines litauischen Visums wurde er dennoch verhaftet. Er wollte was für mich tun und hat, wie ich höre, an die Firma geschrieben.
Sobald Hauptmann Hesse freigelassen wurde, sorgte er für mich. Wenn auch das meiste gestohlen wurde, so erhielt ich dennoch etwas und als Hesse Kowno verlassen hatte, sorgte Frau Dr. Seligkowitz für mich. Sie sandte Gelder an den Rechtsanwalt Gluskin und an das jüdische Ministerium in Kowno. Doch was zu lesen erhielt ich immer noch nicht, da dazu eine besondere Erlaubnis vom Prokurator nötig ist, was keiner allem Anschein besorgte.
Endlich wurde ich nach einer anderen Zelle Nr. 141 überführt, wo ich Anschluß an andere Politische fand. Da gelang es mir, mal ab und zu ein Buch zu erhalten. Da das Gefängnis überfüllt war, wurde mir ein Nachbar zugeteilt, trotzdem es eine Einzelzelle war und der Prokurator strengstens verboten hat, mir einen zuzuweisen.
Ich lernte da verschiedene Herren kennen, darunter einen wichtigen Kommissar der Sowjet-Regierung, sowie den Vorsteher des Deutschen Roten Kreuzes, Sitz in Moskau. Diese versprechen mir, sobald sie frei und auf Umwegen nach Rußland gelange, werden sie mehrere Litauer als Geißeln ins Gefängnis zu stecken suchen, um meine Entlassung dadurch zu erwirken. Einer von diesen Herren war eine Woche vor mir entlassen und ich wäre sicher in einigen Wichen nach Rußland gekommen, wo ich für die Firma mit Erfolg zu arbeiten hoffte. Von diesen Herren sowie später im Lager und von Besuchern daselbst erfuhr ich vieles über das Leben und Treiben in Rußland, sowie auch über das Patentrecht.
Privatpersonen oder Firmen können nicht selbst ihre Patente ausbeuten, sondern der Staat gibt ihnen eine geringe Entschädigungssumme und beutet sie selbst aus. (Schieber gibt es aber trotzdem auch da).
Vergebens richtete ich fast wöchentlich Gesuche an die litauische Regierung, um endlich verhört und eventuell beschuldigt zu werden; unter anderem führte ich an, daß es in keinem imperialistischen Staate ein solch verschlepptes Verfahren denkbar wäre.
Inzwischen wurde von den Politischen der Hungerstreik proklamiert, wegen der schlechten Behandlung, keiner ärztlichen Hilfe, schlechter Kost und anderes noch, 5 Tage hielt derselbe an, länger ging es nicht. Auch besuchte der Prokurator jeden von uns und fragte nach Beschwerden. Ich äußerte u.a. mein Befremden darob, daß man mich unbestraft bereits über 4 Monate im Gefängnis ohne Verhör hält, denn ein Verdacht ist doch noch lange keine Anklage und fragte, wann eigentlich meine Haft eine Ende haben wird.
Es herrschte im Gefängnis der Hunger- und Flecktyphus, 5-6 Personen starben täglich, da keine ordentliche Hilfe und keine Arznei verabreicht wurden. Als einige Kriminalverbrecher auszureißen versuchte, wurden sie niedergeknallt und in der Wut ging die Schießerei in sämtlichen Korridoren dann los, so daß keiner seines Lebens sicher war. Solche und ähnliche Fälle wiederholten sich des öfteren. Unterdessen sind mit meine sämtlichen Sachen samt Reisetasche von einem polnischen Offizier weggenommen worden. Ich habe zwar seine und seiner Eltern Adresse in Erfahrung gebracht, doch habe ich bis jetzt leider nichts zu hören bekommen.
Einige Tage nach dem Besuch des Prokurators wurde ich nach einem Gefangenenlager überführt, eine Unterkunft, auch für eine Räuberhorde viel zu schlecht. Verschiedene gefangene Offiziere der Sowjet-Truppen wurden zur Bewachung der Wald- und Holzarbeiten beordert. Ich meldete mich auch dazu, doch wurde es abgelehnt mit dem Vermerk, ich könne dort leicht ausreißen. Jeder Fluchtversuch aus dem Gefangenenlager, Ungehorsam und anderes wurde mit mindestens 15 Spießruten und hinterher mit strengem Arrest bestraft.
Litauische Offiziere engagieren Deutsche nach Litauen für verschiedene Ämter, doch schon in Kowno auf dem Bahnhof werden diese gewöhnlich arretiert und nach dem Gefängnis bezw. dem Gefangenenlager abgeführt. Einige Fälle sind mir bekannt, da ich als Dolmetscher herangezogen war und es gelang mir, dem Rechtsanwalt Gluskin und dem deutschen Konsul davon Nachricht zu gehen, so daß dieselben wenigstes mit heiler Haut nach kurzer Haft nach Deutschland zurückkehren konnten.
Während meiner fast 5monatlichen Gefängnishaft, trotz der großen Schwierigkeiten, suchte mich nur der Rechtsanwalt Gluskin auf und machte mich darauf aufmerksam, daß nur Ausrücken vielleicht der einzige Weg sei, um mit dem Leben davonzukommen, wozu ich meine Einwilligung gab. Dieser Rechtsanwalt scheint ein sehr kluger, gerissener und doch guter Mensch zu sein, er war ja der einzige Mensch aus der "freien" Welt, den ich zu Gesicht bekam. Im Gefangenenlager besuchte er mich des öfteren, da dazu viel leichter eine Genehmigung zu erhalten war, doch die Nachrichten waren nicht erfreulich. Der Kriegsminister bestand auf standrechtliches Erschießen, worauf der Rechtsanwalt ihm vorhielt: Wenn dem so ist, warum sind denn dann die anderen freigelassen. Da verlangten sie M 50.000. - Kaution, worüber ich ein entsprechendes Schreiben in Händen habe.
Viele russische Kriegsgefangene, aus Deutschland nach der Heimat zurückkehrend, werden von den Randstaaten abgefangen und in ihren schrecklichen Gefangenenlagern gesteckt. Einer von diesen, der als Hilfsmonteur auf dem Flugplatze arbeitet, erzählte mir unter anderem, wie die Engländer bemüht waren, die "Anneliese" in Gang zu bringen, um nach Riga zu fliegen, doch vergebens. Der deutsche Geist läßt sich nicht so leicht umkriegen, ich freute mich diebisch darüber.
Am 10. März suchte mich der Rechtsanwalt Gluskin im Gefangenenlager auf mit strahlendem Gesicht. Er brachte mir die freudige Nachricht, daß ich nun entlassen werden und am 11. holte er mich nach der Stadt ab, wo ich den Herrn Abramson aufsuchte, dem ich sämtliche Papiere der Firma und die des Herrn v. Doepp zur Aufbewahrung vor meiner Haft übergab. Es glückte mir nämlich, bei der Untersuchung die Papiere zu retten und hoffte, dieselben zurückerstatten zu können. Doch da unsere Lage durch die Flucht der Türken so verschärft wurde, so bekam er Angst und wie er behauptet, sämtliche Papiere vernichtet zu haben.
Auf dem Rückwege nach dem Gefangenenlager traf ich zufällig einen früheren Studienfreund, der Mitglied der englischen Mission im Baltikum ist. Dieser versprach mir, zu verhelfen, wenn auch er dabei sein Profit nicht vergessen wird.
Abends den 11. März holte mich ein litauischer Rittmeister vom Gefangenenlager ab, ich mußte jedoch vorher eine Quittung unterschreiben, daß ich mich verpflichte, für die ganze Haftzeit eine Entschädigungssumme von etwa 10 Mark pro Tag zu entrichten. Diese Quittung mußte noch vom Rechtsanwalt Gluskin verbürgt werden und wir gingen dann zur Stadt, wo ich nach einem tüchtigen Bade ins Hotel zur ruhe mich begab. Nach fast sechsmonatlicher Haft hatte ich wieder endlich eine menschliche Behausung und Schlafgelegenheit.
Am 12. März ging es bereits schon zur Bahn, wo der Rechtsanwalt mir meinen russischen sowie vom deutschen Konsul ausgestellten deutschen Paß für die Heimreise einhändigte, ebenfalls Reisegelder. In Eydtkuhnen gab mich der litauische Rittmeister einem deutschen Kommissar, Herrn Kühn, über, worüber er sich eine Quittung ausstellen ließ. Von da ging ich als freier Mann ohne Begleitung nach Königsberg, wo mich der General-Streik einige Tage aufhielt und dann mit der Wasserstraße nach Berlin fuhr, wo der Generalstreik noch fortgesetzt war, und von da nach meiner Arbeitsstätte Dessau, wo ich am 27. März eintraf.
gez. Ing. A. Fränkel, Dessau/Anh. d. 24.IV.20, Mariannenstr. 23II (57)
Soweit der Bericht von Fränkel. Auch über die Erlebnisse des Piloten Hans Hesse gibt es einen, allerdings literarisch aufbereiteten Bericht. 1942 erschien im Verlag Rütten & Loening die Erzählung "Flug nach Moskau" von Adolf von Hatzfeld, die sich, soweit der Vergleich mit dem Bericht von Fränkel erkennen läßt, ziemlich genau an die Tatsachen hält.
Was ist nun aus den beiden Türken und der F 13 "Annelise" geworden? Enver Pascha und der türkische Arzt können, bevor ihre Identität festgestellt werden kann, während eines Spazierganges mit Hilfe des Piloten Harry Rother flüchten und werden von diesem mit einem Flugzeug DFW C-V nach Deutschland zurückgeflogen. Erst im Frühjahr des folgenden Jahres gelingt Enver die Reise nach Moskau.
F 13 "Annelise" in Kowno
Die F 13 "Annelise" wird, wie schon bei Fränkel erwähnt, an Stelle des in Litauen gestohlenen DFW-Flugzeuges in Kowno festgehalten. Harry Rother begibt sich sofort nach seiner Ankunft in das Berliner Büro der Junkerswerke und bietet sich an, die F 13 "Annelise" aus Kowno zu herauszuholen. Erich Offermann berichtet über das Gespräch mit Rother:
"Herr Rother gibt an, derjenige gewesen zu sein, welcher den beiden türkischen Offizieren, die Herr Hesse nach Kowno mitnahm, zur Flucht verholfen zu haben und dieselben hierher gebracht hat. Er behauptet, er sei in der Lage gewesen, Herrn Hesse nebst Begleitung und unser Flugzeug wieder nach Deutschland zu bringen. Das Letztere habe startbereit in der Halle gestanden und er habe Herrn Hesse dringlich den Vorschlag gemacht, den Rückflug zu unternehmen oder ihm (Rother) die Ausführung der Flucht zu übertragen. Hierzu sei Hesse aber nicht zu bewegen gewesen und zwar, wie Rother wörtlich behauptet, aus "Dickköpfigkeit". Hesse vertraue weiterhin seinem guten Stern und sei der Meinung, man müsse ihn schließlich loslassen. Er bedenke aber nicht, wie wichtig uns die Bergung der Maschine sei. Das schlimmste bei der ganzen Geschichte wäre, daß seit einigen Tagen Franzosen und Engländer herbeiströmen, um das Flugzeug zu photographieren und auszumessen. Herr Rother erbot sich, eine Hilfsaktion zu unternehmen und wollte zu diesem Zweck ein weiteres Flugzeug ankaufen. Wir haben daraufhin Herrn Offermann gesagt, daß der Verkauf eines Flugzeuges an Herrn Rother nicht in Betracht kommen könne; man wolle sich nicht ein zweites Mal auf ein derartiges Abenteuer einlassen und der "Annelise" noch ein Flugzeug nachwerfen." (58)
Seitz setzt sich daraufhin mit Leutnant Lange vom Kriegsministerium in Verbindung, der auch vorerst keine Möglichkeit sieht, das Flugzeug aus Litauen herauszubekommen:
"Das Auswärtige Amt will in der Angelegenheit "Flugzeug Annelise" absolut nichts mehr unternehmen, zumal es durch Kapitän Humann von dem Vorhaben gar nicht benachrichtigt war. Freiherr von Maltzahn. mit welchem Herr Lange selbst gesprochen hat, sagt, die Sache sei jetzt eine Privatangelegenheit des deutschen Generalbevollmächtigten in Kowno, Zimmerle, von dessen gutem Willen es abhinge, uns weiter zu unterstützen. ... Herr Lange erbietet sich, selbst nach Kowno zu fahren und will dies inoffiziell und auf eigenes Risiko tun. ..." (59)
Am 16. November reist Leutnant Lange nach Kowno ab. über das Ergebnis seiner Reise berichtet er nach seiner Rückkehr:
"Am 16. abends 9 Uhr 12 Min. verließ ich Berlin, ohne in den Besitz der für die Flugzeugbesatzung bestimmten Briefe gelangt zu sein. Bei meiner Ankunft in Eydtkuhnen teilte mir der Leiter der Grenzpolizei, Hauptmann von Hagen, mit, daß ein Passieren der Grenze auf legalem Wege unmöglich sei, da die deutsche Gesandtschaft am Tage vorher auf Anordnung der Entente Kowno hatte fluchtartig verlassen müssen. Der deutsche Generalbevollmächtigte würde jeden Augenblick in E. erwartet, und es wäre unmöglich für mich als einziger Deutscher, nach Kowno zu gelangen. Hauptmann von Hagen teilte mir mit, daß das litauische Flugzeug des Oberleutnant R. bereits in Eydtkuhnen eingetroffen sei und auf Befehl des Admirals Hopmann sofort an Litauen auszuliefern sei. Ich setzte ihm daraufhin die Gesamtlage auseinander und erreichte, daß das Flugzeug vorläufig nicht ausgeliefert wird, obwohl der französische General Niessell bei Admiral H. auf der Auslieferung bestand. In E. stand ein Auto des deutsche Roten Kreuzes in Kowno, das dorthin zurückfahren wollte. Ich besprach mich mit den beiden Chauffeuren, um sie zu meiner Mitnahme zu bewegen. Nach dem Angebot eines angemessenen Trinkgeldes gelang dies auch, und ich ließ auf Anraten des Hauptmanns von H. meine sämtlichen Papiere, die mich als Angehörigen einer deutschen Militärbehörde auswiesen (Noskeausweis und das Schreiben des K.M.), dort zurück. Die Grenze in Wirballen wurde glatt passiert. In Pilwiszkj wurden wir von einem litauischen Offizier und zehn Mann angehalten und verhaftet. Da ich mir sagte, daß bei einer Verhaftung meiner Person und dem daran anschließenden Transport nach Kowno die Litauer Verdacht schöpfen könnten, so versuchte ich unter allen Umständen meine sofortige Freilassung zu erwirken, die mir denn auch durch Bestechung des litauischen Offiziers und seiner Leute gelang, so daß wir unangefochten weiter konnten. Die nach 9 Uhr abends im Bereich von Kowno ohne Ausweis sich niemand auf der Straße blicken lassen durfte, so stieg ich in Telajti ab und wartete auf den kommenden Morgen. Um 6 Uhr früh fuhr ich mit einem Panjewagen nach Kowno, nachdem ich schon am Abend vorher für Oberleutnant H. dem Chauffeur einen Brief allgemeinen und doch für ihn allein verständlichen Inhalts mit Mark 2500.-- mitgegeben hatte. Quittung über Brief und Inhalt liegt dem Bericht bei.
In Kowno mußte ich nun leider sehen, daß ein Herankommen an das Flugzeug gänzlichst unmöglich war und ist, es wird strengstens bewacht, außerdem wimmelt es von Ententeoffizieren und Mannschaften. Beim deutsche Roten Kreuz erfuhr ich, daß der Generalbevollmächtigte am Abend vorher ebenfalls aus Kowno abgefahren war, so daß mit gar nichts weiter übrig blieb als unverrichteter Sache umzukehren. Ich benutzte von Maurucie den Personenzug nach Wirballen, gelangte nach einigen Hindernissen dorthin, passierte ungehindert die Grenze und hatte Gelegenheit in Eydtkuhnen den deutschen Generalbevollmächtigten noch anzutreffen, der mir in der Angelegenheit folgendes berichtete:
Oberleutnant H. und Herr F. sind beide wieder frei. Der am 19.11. nach Kowno zurückkehrende Beauftragte des Bevollmächtigten Dr. Eisenbacher hat sich für beide verbürgt beim litauischen Ministerpräsidenten. Oberleutnant H. war zweimal beim Bevollm. zu Tisch. Es war bereits einmal die Möglichkeit, daß H. den Bevollm. mit der "Annelise" nach Deutschland fliegen sollte, was sich im letzten Moment zerschlug. Nach Ansicht des Bevollm. haben wir uns der letzten Handhabe den Litauern gegenüber begeben, in dem Moment, wo ihnen das litauische Flugzeug ausgehändigt wird.Der Bevollm. hat H. zweimal aufgefordert, mit dem Sonderzug der Gesandtschaft, in dem sämtliche deutsche in litauischen Diensten stehenden Offiziere pp. mitfuhren, mitzukommen, H. hat auch bereits zur Verabschiedung von den deutschen Herren im Zuge gesessen und ist von diesen nochmals aufgefordert worden mitzukommen, hat es aber abgelehnt mit der Begründung, er könne sich von dem ihm anvertrauten Flugzeug nicht trennen und ist aus dem bereits fahrenden Zug gesprungen. Nach Mitteilung des Bevollm. haben die Litauer den Betriebsstoff aus dem Flugzeug gestohlen, außerdem soll H. das Flugzeug startunfähig gemacht haben durch Verstellen der Zündung sowie Entfernen eines der wichtigsten Apparate.
Ich begab mich daraufhin nochmals zum Hauptmann von Hagen, der mir versicherte, daß er das litauische Flugzeug nicht herausgäbe, und wenn es seine Stellung kosten solle. Ich benutzte daraufhin mit dem Bevollm. von Eydtkuhnen den gleichen Zug, um von ihm noch Verschiedenes über die Angelegenheit zu hören, was leider mißlang, da ihn, wie ich aus seinen Antworten entnehmen mußte, die ganze Sache ziemlich langweilte. Ich habe nur das eine Versprechen von ihm bekommen, daß er sofort am heutigen Nachmittage (Mittwoch) beim Außenminister auf das Energischste darauf hinwirken sollte, nur auf einen Austausch von Flugzeug zu Flugzeug einzugehen. Von der Vorsitzenden des deutschen Roten Kreuzes in Kowno, Frau Käte Koeppen, mußte ich erfahren, daß man auch in Kowno so über den Bevollm. urteilt, wie ich bereits des öfteren zum Ausdruck gebracht habe. Hatte irgend jemand auf der deutschen Gesandtschaft zu tun, so war der Ausdruck allgemein gebräuchlich: Ich gehe ins Irrenhaus. Kurz nach meiner Ankunft am heutigen Mittage traf ich den mit dem Gesandtschaftszug am Sonntag in Kowno abgefahrenen Leutn. Dietrich (Fliegerschütze) in Begleitung des Oberleutnants R., der mir erklärte, daß es nie von den deutschen Herren begriffen worden sei, warum H. von dem Notlandeplatz mit den beiden Litauern zusammen nicht nach Deutschland, sondern nach Kowno geflogen ist. Hätte H. irgend einen der deutschen Fliegeroffiziere ins Vertrauen gezogen, so wäre nach Ansicht des Leutnants Dietrich eine Flucht mit der "Annelise" schon lange möglich gewesen. Auch nach meinem Dafürhalten ist dies jetzt sogar noch möglich, und ich muß es den Junkerswerken überlassen, sich mit Oberlt. R. und Leutn. D. hierüber in Verbindung zu setzen.Berichte des Generalbevollm., sowie des Hauptmanns Wolf, erlaube ich mir in den nächsten Tagen zu überreichen. (60)
In einem irrt Leutnant Lange, Fränkel ist noch nicht frei. Am 3. Dezember trifft im Hauptbüro ein Telegramm ein: "Fränkel noch Gefängnis Kowno, leidet schwer. Versuchen Sie, Kaution anzubieten. Hauptmann Behr." Seitz setzt sich daraufhin sofort mit Legationsrat von Blücher vom Auswärtigen Amt in Verbindung und bittet ihn, sich für Fränkel einzusetzen. Blücher teilt ihm mit, daß im Auswärtigen Amt ein Telegramm aus Kowno eingetroffen wäre mit folgendem sinngemäßen Inhalt:
"Die Angelegenheit betreffend Flugzeug "Annelise" wird nachdrücklich verfolgt. Das Flugzeug kann nur durch richterlichen Spruch eingezogen werden; es ist beschlagnahmt. Voraussetzung für die Freigabe ist, daß das Strafgesetz, welches Oberleutnant Hesse verletzt haben soll, als er die Grenze überflog, die Einziehung zuläßt. Es wird taktisch für besser gehalten, vorläufig dahin zu wirken, das Verfahren gegen Hesse und Genossen einzustellen: Erfolg steht bevor."(61)
Wie bereits aus dem Bericht von Fränkel ersichtlich, ziehen sich die Verhandlungen um die Freilassung von Fränkel noch bis zum Frühjahr des folgenden Jahres hin.
Ein Freikauf der beschlagnahmten F 13 "Annelise" kann nicht erreicht werden. Das Flugzeug wird nach der Reparatur von litauischen Fliegern geflogen und wird am 22. August 1923 bei einer Notlandung infolge eines Motordefektes erheblich beschädigt. (62)